Wie stelle ich mir Literatur vor?

Zweidimensional, sensorisch, zeit- und raumlos

Wenn ich an Literatur denke, stelle ich mir eine bestimmte Literatur vor, weil sie mich berührt. Es gibt zwar andere Literatur, aber die berührt mich nicht. Woran liegt es, wenn mich Literatur berührt? Was macht sie anders als andere Literatur? Die Antworten auf diese Fragen führen mich zu folgender Perspektive: Literatur und Kunst sollten zweidimensional, tastend und fühlend sowie zeit- und raumlos sein.

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Zweidimensional darstellen

Was heißt „zweidimensional“? Ich erinnere mich, einmal einen indischen Film gesehen zu haben, bei dem zentrale Szenen einer anhaltenden Auseinandersetzung zwischen zwei Freunden vor einem schroff aufsteigenden Grashügel gefilmt worden waren, der den ganzen Hintergrund ausfüllte. Diese „flache Leinwand“ fokussierte den Blick des Betrachters wirkungsvoll auf den seelischen Konflikt der beiden.

So hat man im Mittelalter gemalt, als das physische Leben der Menschen stets am seidenen Faden hing: zweidimensional, ohne Perspektive. Zwar hängt das Leben in reichen Ländern heute oft eher seelisch als physisch am seidenen Faden, dennoch bleiben Dreidimensionalität, Farbigkeit und korrekte Perspektive an sich nutzlos; sie sind Ablenkung vom Wesentlichen. Das Wesentliche ist einfach, konzentriert – oft mit gestauchter Perspektive.

Die europäische Renaissance mit ihrem starken Wunsch nach Dreidimensionalität hat dennoch auch berührende Bilder hervorgebracht: Stehe ich vor dem Isenheimer Altar in Colmar, sehe ich mein Leben: aus den Fugen geratene Proportionen, eigenartige Perspektiven und vieles mehr, was bildlich gesehen nicht real erscheint. Die Szene „Auferstehung Christi“ des Altars finde ich deutlich lebhafter als die „Mona Lisa“. Wenn ich auf dem Isenheimer Altar die „Keuzigung Christi oder die „Versuchung des heiligen Antonius“ sehe, denke ich an unser heutiges Leben. Im Angesicht der „Versuchung Christi“ von Sandro Botticelli aus der Sixtinischen Kapelle denke ich an Kunstgeschichte, Architekturtheorie, Humanismus und dicke, staubige Bücher.

Diese Kunstobjekte sind natürlich schon über fünfhundert Jahre alt. Die vergoldete, kitschige Porzellanskulptur „Michael Jackson and Bubbles“ von Jeff Koons aus dem Jahre 1988 dagegen berührt mich mit einer gewissen zeitgenössischen Faszination, sie löst etwas aus; sie ist aber viel zu kompliziert gedacht. Kitsch verringert tatsächlich die Distanz zum betrachteten Objekt, wie Walter Benjamin kritisch äußerte, aber das ist nicht das Problem. Dass Kitsch sofortige emotionale Befriedigung ohne intellektuelle Anstrengung bietet, hat sich in der Kunst heute in das Gegenteil verkehrt: Die bunte Fröhlichkeit, krasse Überschreitung und Respektlosigkeit von Kitsch-Kunst bieten letztlich, bei aller Sexualisierung, ein kaltes Objekt, das trotz höchster geistiger Anstrengung keine emotionale Befriedigung mehr hervorrufen kann. Das grell Realistische und das kompliziert und angestrengt erzeugte Oberflächliche von Kitsch-Kunst verhindert, dass der Betrachter unmittelbar den tiefen Schmerz der Heimatlosigkeit bei sich fühlen kann, den das Objekt eigentlich auslösen müsste. Seelischer Schmerz ist ein treuer Begleiter der Liebe – auch der brennenden Liebe zum Leben.

Sensorisch (fühlend und tastend) beschreiben

Was heißt sensorisch, also „fühlend und tastend“, beschreiben? Wenn ein Mensch gedemütigt, kleingehalten, verprügelt, vergewaltigt, verletzt oder auch enttäuscht oder seines Vertrauens beraubt wird, ist das Ergebnis dieser Ereignisse – vor allem der erinnerten Ereignisse – kein monolithischer Fels aus immer gleich beschreibbaren „negativen“ und „schmerzlichen“ Gefühlen.

Vielmehr verbirgt sich in dieser Gefühlshistorie ein Kosmos, der zwar glücklicherweise einer verobjektivierenden Gesellschaftskritik zugänglich ist, aber nicht auf eine solche Kritik reduziert werden sollte. Wer sich ein Leben lang gegen „schlechte“ Gefühle oder Erinnerungen wehrt, wird nie erfahren, dass das Schlechte ein unveränderbarer Teil unserer Welt ist. Menschen, die das Schlechte ablehnen oder auf einen endgültigen Sieg über das Schlechte in dieser Welt hoffen, leben ein Leben voll schmerzhafter, seelischer Leugnung; sie leben in einer orientierungslosen Illusion.

Die Landkarte der menschlichen Entwicklung und Entstellung zu zeichnen ist die vornehmste Aufgabe der Literatur und Kunst. Ausgerüstet mit dieser Landkarte kann die Suche nach eigener, situationsbedingter Wahrheit beginnen. Wie sich ein Vorgang in den Gefühlen eines Menschen niederschlägt (das momentane Erleben ist nicht besonders wichtig), ist keine von vorneherein ausgemachte Sache und auch nicht stereotyp. Darüber, wie verschiedene Menschen einen sehr ähnlichen Vorgang in ihrem „Gefühlskörper“ unterschiedlich erleben und warum dies so ist, wissen wir letztlich wenig. Mehr Wissen würde uns mehr Veränderung ermöglichen. Für einen Arzt ist die Diagnose oft das Schwierigste, nicht die Therapie.

Wo keine innere Panzerung vorhanden ist, kann man sich zu jedem erlebten Vorgang die Frage stellen: Wie tragen die dabei entstehenden Gefühle zum Aufbau eines großen, lebendigen „Schmerzkörpers“ im Inneren des Menschen bei? Die nächste Frage ist dann: Wie ist die genaue Physis dieses inneren, seelischen Körpers beschaffen?

Weiter kann man aus einer sozialen und seelischen Perspektive fragen, ob es gelingt, den Schmerzkörper vom jeweiligen Ich zu entkoppeln. Dazu muss man wissen, wo Schmerzkörper ist und wo nicht; man muss seine Umrisse und Gestalt kennen. Wenn der Schmerzkörper bekannt ist, kann man sogar zusätzlich darangehen, das Ich aus seiner dominanten Position zu verdrängen.

Heute werden gerne Geschichten von Helden und Opfern erzählt. Alle Menschen sind aber in Wirklichkeit klein, schwach und verletzlich, sowohl Kinder als auch Erwachsene. Zwischen Held und Opfer befinden sich die meisten Menschen irgendwo in einer gedachten Mitte. Demut und Gemeinschaftssinn wären geeignetere Haltungen als sich selbst vor die Wahl zwischen Heroismus oder Depression zu stellen. Demut heißt nicht, sich unter ein Joch zu beugen. Demut heißt mit Blick auf alle anderen Menschen, seien sie nun lebend oder tot, anzuerkennen: „Ich, an ihrer Stelle, hätte genauso gehandelt.“ Demut heißt, das Gesetz von Ursache und Wirkung anzuerkennen.

Warum möchte ich für „fühlend und tastend“ nicht den Begriff „sensibel“ verwenden? Der Begriff „sensibel“ legt so etwas wie emotionale „Weichgespültheit“ nahe, einen Grundton des passiven Mitgefühls. Eine solche Grundhaltung trägt nicht zur Erhellung bei. Um die Gefühlslandkarte der Welt zu erkunden, benötigt man eher abgeklärten Mut und Abenteurergeist.

Warum nicht „impressionistisch“? Das Ich (oder Subjekt) ist zwar nicht beständig, und der „Schmerzkörper“ des Menschen relativ wandelbar, dennoch sind Ich und Schmerzkörper im Alltag oft mehr harte Wirklichkeit als subjektiver Eindruck. Für Menschen, auch kollektiv betrachtet, sind „Ich“ und „Schmerzkörper“ oft die einzige – jeweilige – Wirklichkeit, an der sie sich festklammern.

Zeit- und raumlos eintauchen in die Welt

Was heißt „zeit- und raumlos“ in die Welt eintauchen? Ein wesentlicher Teil der heutigen Produktion von fiktionalen Texten und Geschichten siedelt seine Handlung „in einer anderen Zeit oder Welt“ oder „im historischen Gesamtzusammenhang“ an. Manche Geschichten spielen in der Vergangenheit, beispielsweise im Mittelalter, in der Steinzeit, bei den Jägern und Sammlern, oder in der Zukunft, beispielsweise in einer futuristischen Welt mit interstellarer Reisetätigkeit, autonomen Robotern und einer ausgefeilten technologischen Sozialkontrolle.

Andere Geschichten spielen in einer Fantasiewelt, die aus Versatzstücken der menschlichen Geschichte besteht und den „Gesamtzusammenhang“ unserer Gesellschaft episch verfremdend zu beschreiben versucht. Das Grundprinzip jeder dieser literarischen oder erzählerischen Ästhetiken entspricht jedoch der Ideologie unserer heutigen Gesellschaft, die heißt: „Entwicklung – Fortschritt – Zukunft“.

Eine andere Erzählschule dagegen widmet sich gerade partiellen Zweifeln an dieser großen Entwicklungserzählung der Menschheit. „Horror und Spannung“ sind aber nicht wirklich geeignet, den menschlichen Geist in fortgesetzten und produktiven Zweifel zu versetzen. Am Ende siegt in diesen Geschichten immer wieder die Normierung.

Tatsächlich fungiert der ganze bunte Karneval der Geschichtenerzähler eher als Blendwerk. In ihrer wesentlichen Dynamik verändert sich die menschliche Gesellschaft gar nicht, trotzdem es scheinbar tiefgreifende Veränderungen gibt und tatsächliche Änderungen eine große äußere Kraft entfalten. Rein äußerlich gesehen gibt es diese bedeutenden Entwicklungen. Aber der Mensch „erfährt weder durch die Wissenschaft noch durch die Vorgänge der vergänglichen Welt jemals etwas Neues“. Die Seele eines jeden Menschen trägt alles, was man wissen kann, bereits schlummernd in sich, und dieses Wissen ist unveränderbar, ewig.

Das Große ist im Kleinen verborgen. Es ist unnötig, ein getreues Abbild der großen, weiten Welt und der Gesellschaftsstruktur im Gesamten zu schaffen – die ganz große Leinwand aufzuziehen. In dem kleinen Bild beispielsweise eines wohlmeinenden, arglosen Kindes, das die Hände freundlich ausstreckt, nur um von einem ungehaltenen Erwachsenen darauf geschlagen zu bekommen, ist bereits alle Dramatik und alle Analyse und alle Kritik und alle Kunst enthalten, die die Welt braucht.

Verlässt man die bunte Welt der abenteuerlichen Geschichten von Rittern, Robotern und Psychopathen, so hilft es dennoch nicht, sich erneut der Welt der fiktionalisierten moralischen Traktate zuzuwenden. Es wäre tatsächlich gut, das Lesen würde der Leserin oder dem Leser die Zigarre aus der Tasche zaubern – um in großer Ruhe leidenschaftslos über das Gelesene zu reflektieren. Das Zeitalter der literarischen „Verfremdung“ ist gleichwohl bereits an sein Ende gekommen. Leser oder Zuschauer sollten weder nach ausgiebiger Analyse endlich etwas „erkennen“ noch sollten sie angeleitet werden, kritisch „Partei zu ergreifen“.

Der Eindruck muss vielmehr direkt sein, denn wenn man im Leben ein Objekt wirklich erkennen will, kann man sich ihm nicht von außen annähern. Eine zum Scheitern verurteilte Annäherung von außen kann auch im negativen Sinne erfolgen, beispielsweise durch intellektuelle Kritik oder durch eine ironische Herangehensweise, denn sowohl emotional-naive „Einfühlung“ in eine Figur als auch eine kritische oder ironische Betrachtung sind letztlich Akte der (manchmal negativen) „Identifikation“. Gelingen wird nur eine Annäherung von innen, ein Verschmelzen. Das Ziel von Fiktion sollte weder Einfühlung noch Verfremdung noch Ironie sein, sondern Unmittelbarkeit.

Warum ist das so? Um sich mit jemand oder etwas von außen zu „identifizieren“, muss man von diesem Anderen, diesem Fremden, verschieden sein; das ist das Wesen von „Identifikation“ (etwas als gleich erachten, etwas gleichsetzen). Zwei unterschiedliche Dinge sind nicht „identisch“ und können es auch nicht werden. Andererseits ist ein Ding, beispielsweise ein Mensch, zwar identisch mit sich selbst, aber aus dieser Tatsache erfährt man nichts, denn es ist praktisch unmöglich zu sagen, welches das andere Objekt wäre, mit dem ein Mensch – als „ursprüngliches“ Objekt gesehen – dann identisch wäre. „Verschmelzung“ oder „Einswerden“ ist nicht „Identifikation“.

Anders als man denken könnte, kann man sich durch Identifikation einem Objekt nicht stetig annähern; das Mittel der Identifikation führt immer zu einem bewegungslosen Betrachten aus der Distanz. Natürlich bleibt der Zweifel, ob der Wunsch „eins zu werden“ jemals an sein Ziel gelangen kann. Der Versuch, einem anderen innerlich vollständig nahe zu sein, alles zu teilen, hat dennoch eine höhere Energie als der Wunsch, für jemanden Partei zu ergreifen.

Wenn ich mit einem anderen eins wäre, würde ich alles so erleben, als würde es mir unmittelbar selbst geschehen. Um dabei nicht wahnsinnig oder depressiv zu werden, benötigt man zusätzlich eine geduldige Haltung gegenüber der Tatsache, dass es in der Welt immer Schlechtes geben wird, welches auf gewisse Weise dann auch unmittelbar mir selbst widerfährt. Dabei hilft es auch, Humor zu bewahren. Gerade die Literatur in Deutschland der letzten 250 Jahre zeichnet sich durch eine besonders intensive Abwesenheit von Humor aus; Humorlosigkeit ist aber eine Charaktereigenschaft von Herrschaft. Irland, eine Art „ewiger Verlierer“, ist beim Humor einen anderen Weg gegangen. Im Übrigen muss man sich eine direkte Beziehung zu einem Objekt nicht als einseitig hierarchische Beziehung vorstellen. Menschen suchen immer nach dem Sinn des Lebens. Auf diese Weise findet man aber nichts, denn den Sinn des Lebens findet man sowieso nicht. Der Sinn des Lebens ergreift einen von außen, ohne dass man etwas tun müsste, außer sich diesem Ergreifen hinzugeben.

Der Rezipient eines Kunstwerks sollte nicht betrachtend einem Objekt gegenüberstehen und dann „Partei ergreifen“ oder „ironisch darüber reflektieren“. Wesentlich ist vielmehr eine unmittelbare Erkenntnis, in der keine Distanz zwischen dem Erkennenden und dem Erkenntnisobjekt besteht. Mitgefühl und Sympathie sind zwar an sich gut, aber dafür braucht es keine Kunst. Wer lediglich für einen anderen eintritt, tritt lediglich als Stellvertreter auf und kann sein Mandat jederzeit zurückgeben.

Distanz erzeugt Trennung. Trennung ist das Problem unserer Zeit. „Als Eines, nicht als Gleiches“ soll man sich dem Erkenntnisobjekt nähern. Das bedeutet „zeit- und raumlos eintauchen“: die Abwesenheit von Distanz und Trennung.