Traumkitsch

von Walter Benjamin

Es träumt sich nicht mehr recht von der blauen Blume. Wer heut als Heinrich von Ofterdingen erwacht, muss verschlafen haben. Die Geschichte des Traumes bleibt noch zu schreiben, und Einsicht in sie eröffnen, hieße, den Aberglauben der Naturbefangenheit durch die historische Erleuchtung entscheidend schlagen. Das Träumen hat an der Geschichte teil. Die Traumstatistik würde jenseits der Lieblichkeit der anekdotischen Landschaft in die Dürre eines Schlachtfeldes vorstoßen. Träume haben Kriege befohlen und Kriege vor Urzeiten Recht und Unrecht, ja Grenzen der Träume gesetzt.

Der Traum eröffnet nicht mehr eine blaue Ferne. Er ist grau geworden. Die graue Staubschicht auf den Dingen ist sein bestes Teil. Die Träume sind nun Richtweg ins Banale. Auf Nimmerwiedersehen kassiert die Technik das Außenbild der Dinge wie Banknoten, die ihre Gültigkeit verlieren sollen. Jetzt greift die Hand es noch einmal im Traum und tastet vertraute Konturen zum Abschied ab. Sie fasst die Gegenstände an der abgegriffensten Stelle. Das ist nicht immer die schicklichste: Kinder umfassen ein Glas nicht, sie greifen hinein. Und welche Seite kehrt das Ding den Träumen zu? Welches ist diese abgegriffenste Stelle? Es ist die Seite, welche von Gewöhnung abgescheuert und mit billigen Sinnsprüchen garniert ist. Die Seite, die das Ding dem Traume zukehrt, ist der Kitsch.

Klatschend fallen die Phantasiebilder der Dinge als Blätter eines Leporello-Bilderbuchs „Der Traum“ zu Boden. Sinnsprüche stehen unter jedem Blatt. „Ma plus belle maîtresse c’est la paresse“ und „Une médaille vernie pour le plus grand ennui“ und „Dans le corridor il y a quelqu’un qui me veut à la mort“. Die Sürrealisten haben solche Verse verfasst, und befreundete Künstler haben das Bilderbuch nachgezeichnet. „Répétitions“ nennt Paul Eluard eines, auf dessen Titelbild Max Ernst vier kleine Jungen gezeichnet hat. Sie wenden dem Leser, dem Lehrer und dem Katheder den Rücken und blicken über eine Balustrade hinaus, wo in der Luft ein Ballon steht. Mit seiner Spitze wiegt auf der Brüstung sich ein riesiger Bleistift. Die Repetition der kindlichen Erfahrung gibt zu bedenken: Als wir klein waren, gab es noch den beklemmenden Protest gegen die Welt unserer Eltern nicht. Als Kinder mitten in ihr zeigten wir uns überlegen. Mit dem Banalen, wenn wir es ergreifen, ergreifen wir das Gute, das, sieh, so nah liegt.

Denn die Sentimentalität unserer Eltern, vielfach destilliert, ist gerade gut, das sachlichste Bild unseres Fühlens zu stellen. Die Weitschweifigkeit ihrer Rede zieht gallebitter uns sich zum krausen Rätselbild zusammen; das Ornament des Gesprächs ward innerlichster Verschlingungen voll. Darinnen ist seelische Zuneigung, Liebe, der Kitsch. „Der Sürrealismus ist berufen, in seiner essentiellen Wahrheit den Dialog wiederherzustellen. Die Partner sind vom Zwang des Höflichseins entbunden. Wer spricht, wird keine Thesen deduzieren. Die Antwort aber schiert aus Grundsatz sich nicht um die Eigenliebe dessen, der sprach. Denn Wort und Bilder gelten dem Geist des Hörers nur als Sprungbrett.“ Schöne Erkenntnisse aus Bretons sürrealistischem Manifest. Sie bilden die Formel des dialogischen Missverständnisses, will sagen, des Lebendigen im Dialog. Denn „Missverständnis“ heißt die Rhythmik, mit welcher die allein wahre Wirklichkeit sich ins Gespräch drängt. Je wirklicher ein Mensch zu reden weiß, desto geglückter missversteht man ihn.

In „Vague de rêves“ berichtet Louis Aragon, wie die Manie zu träumen in Paris um sich griff. Die jungen Leute glaubten, ein Geheimnis der Dichtung gefunden zu haben – in Wahrheit stellten sie das Dichten ab, wie alle intensivsten Kräfte dieser Zeit. Saint-Pol-Roux befestigt vor dem Schlafen gehen am frühen Morgen ein Schild an seiner Türe: „Le poète travaille.“ – Dies alles, um ins Herz der abgeschafften Dinge vorzustoßen. Um die Konturen des Banalen als Vexierbild zu entziffern, aus den waldigen Eingeweiden einen versteckten „Wilhelm Tell“ aufzustören, oder auf die Fragen „Wo ist die Braut?“ erwidern zu können. Vexierbilder als Schematismen der Traumarbeit hat längst die Psychoanalyse aufgedeckt. Die Sürrealisten sind mit solcher Gewissheit der Seele weniger als den Dingen auf der Spur. Den Totembaum der Gegenstände suchen sie im Dickicht der Urgeschichte auf. Die oberste, die allerletzte Fratze dieses Totembaumes ist der Kitsch. Er ist die letzte Maske des Banalen, mit der wir uns im Traum und im Gespräch bekleiden, um die Kraft der ausgestorbenen Dingwelt in uns zu nehmen.

Was wir Kunst nannten, beginnt erst zwei Meter vom Körper entfernt. Nun aber rückt im Kitsch die Dingwelt auf den Menschen zu; sie ergibt sich seinem tastenden Griff und bildet schließlich in seinem Innern ihre Figuren. Der neue Mensch hat alle Quintessenz der alten Formen in sich, und was in der Auseinandersetzung mit einer Umwelt aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sich bildet, in Träumen wie in Satz und Bild gewisser Künstler, ist ein Wesen, das der „möblierte Mensch“ zu nennen wäre.